„Schwer, das mitzutragen, aber…“

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Porträtfoto Querformat mit weißem Blazer

Pressefoto Staatsministerin Reem Alabali Radovan

Foto: Bundesregierung / Bergmann

taz: Frau Alabali-Radovan, am Dienstag ist Weltflüchtlingstag, der auf die Rechte Geflüchteter aufmerksam machen soll. Genau diese Rechte will die EU durch Schnellverfahren an den Außengrenzen beschneiden. Und die Ampel trägt das mit. Macht eine SPD-geführte Bundesregierung jetzt die Asylpolitik, von der Horst Seehofer einst nur träumen konnte?

Reem Alabali-Radovan: Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir die gemeinsame europäische Asylreform voranbringen. Ich habe mir eine andere europäische Lösung gewünscht, aber das ist die bittere Realität, in der wir uns in Europa befinden. Deutschland ist fast allein mit der Forderung, Familien mit Kindern und Jugendliche von Grenzverfahren auszunehmen. Nur Luxemburg, Portugal und Irland teilen da noch unsere Position. Immerhin konnte erreicht werden, dass Flüchtlinge nicht in Drittstaaten zurückgebracht werden können, zu denen sie gar keine Verbindung haben. Dafür habe ich mich sehr eingesetzt.

Also halten Sie den EU-Asylkompromiss für vertretbar?

Die Reformdebatte ist ja noch nicht am Ende. Wie genau die neue EU-Asylpolitik aussehen wird, werden die Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament zeigen. Wir sind im engen Kontakt mit den sozialdemokratischen Europaabgeordneten und werden unsere Anliegen weiter einbringen. Wir müssen aber akzeptieren, in welcher Situation wir uns auf EU-Ebene befinden. Was beschlossen wurde, macht mir große Sorgen und es fällt schwer, das mitzutragen – trotzdem müssen wir damit umgehen. Wichtig ist, dass es vorangeht. Und das tut es an wichtigen Punkten: Erstmals gibt es jetzt einen solidarischen Verteilmechanismus für Geflüchtete, bei dem Nicht-Aufnahme-Länder Ausgleichszahlungen leisten sollen. Ohne diesen Mechanismus ließe sich das Grenzverfahren nicht rechtfertigen.

Droht nicht trotzdem die Aushöhlung des Asylrechts?

Es ist wichtig, dass bei Prüfung der Asylanträge alle rechtlichen Standards eingehalten werden. Es darf keine weiteren Lager wie Moria geben. Und wir müssen darauf achten, dass der Zugang zu Rechtsberatung auch in den beschleunigten und den Grenzverfahren gewährleistet wird. Die von manchen befürchteten haftähnlichen Bedingungen an den Außengrenzen dürfen nicht nach Vorbild Morias Realität werden.

Und wie soll das gelingen?

Den Grenzstaaten fehlen Expertise und Personal. Wir müssen die Grenzstaaten unterstützen. Das ist auch im Interesse der Flüchtlinge. Vor allem aber muss die Kommission als „Hüterin der Verträge“ hier ihrer Verantwortung besser gerecht werden.

Gibt es für Sie eine rote Linie für die EU-Asylpolitik?

Restriktiver als der jetzt vorliegende EU-Kompromiss darf es nicht werden.

Die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal nannte den Kompromiss „ein einziges Unrecht“. Und die Ex-SPD-Chefin in Hessen, Andrea Ypsilanti, ist aus Protest aus ihrer Partei ausgetreten. Verstehen Sie das?

Niemandem in der SPD fällt es leicht, diesen Schritt zu gehen. Das Thema bewegt viele, ganz besonders diejenigen mit eigener Fluchtgeschichte, wie auch ich. Natürlich frage ich mich: Wie wäre meine Geschichte verlaufen, wenn Europa schon in 90er Jahren Asylregelungen gehabt hätte, wie sie nun geplant sind.

Ihre Eltern stammen aus dem Irak, sind zum Studieren nach Moskau gegangen und dann nach Ihrer Geburt mit Ihnen nach Deutschland gekommen, wo Sie Asyl erhielten. Wäre Russland in den 90er Jahren als sicherer Drittstaat eingestuft worden, wie es nach dem EU-Plan jetzt mit Ländern wie Tunesien geschehen soll?

Das sind Fragen, die ich mir stelle. Und ich bin mir tatsächlich nicht sicher.

Ist die Bundesregierung in der Asylpolitik eigentlich so scharf nach rechts abgebogen, weil die AfD in Umfragen so viel Zustimmung hat?

Im Gegenteil: Die Ampelkoalition hat mehr Fortschritte im Bereich Integration und Migration erreicht hat als alle Bundesregierungen davor. Wir haben das Chancen-Aufenthaltsrecht beschlossen und unabhängige Asylverfahrensberatung ermöglicht. Aber der gesamtgesellschaftliche Diskurs ist in den letzten Monaten nach rechts gerückt. Manche Äußerungen aus der Union machen mir große Sorgen. Da wird gefordert, das Asylrecht auszuhebeln oder Obergrenzen zu beschließen, es fallen Wörter wie „Sozialtourismus“. So werden Argumente salonfähig, die Rechten nutzen.

Sehen Sie Parallelen zwischen heute und 1993 als CDU, FDP und SPD gemeinsam das deutsche Asylrecht massiv einschränkten?

Ich sehe gewisse Parallelen zu der aktuellen Diskussionskultur. Die Art und Weise, wie damals über Menschen mit Migrationsgeschichte gesprochen wurde, hat begünstigt, dass es zu rassistischen Anschlägen wie in Mölln und Solingen kam. Deswegen appelliere ich an alle demokratischen Akteure, darauf zu achten, wie wir über die aktuelle Situation sprechen. Das Thema Migration ist ein Jahrhundertthema und ich dachte wirklich, wir sind hier weiter. Bei Anschlägen steckt natürlich auch tief verankerte rechte Ideologie dahinter. Deswegen ist es so wichtig, dass die Bundesregierung mit dem Demokratie-Fördergesetz, der Förderung von politischer Bildung und antirassistischer Arbeit vorangeht, und dass sich die Zivilgesellschaft kritisch einbringt.

Die gesellschaftliche Stimmung konnte sich auch deshalb hochschaukeln, weil die Ampel sich monatelang weigerte, den Ländern und Kommunen mehr Geld für die Flüchtlingsaufnahme bereitzustellen. Am Ende gab es nur einmalig für dieses Jahr eine Milliarde extra. Bräuchte es keine dauerhafte Regelung?

Die Aufnahme und Integration Schutzsuchender ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Länder und Kommunen. Und wir dürfen uns nicht spalten lassen. Natürlich ist es wichtig, dass wir die Kommunen finanziell unterstützen. – das tun wir sehr umfangreich. Aber wir müssen auch Verfahren und Abläufe verbessern. Ich habe in einer Erstaufnahme-Einrichtung gearbeitet und weiß, dass es Prozesse gibt, die viel zu langwierig sind.

Weil Behörden nicht digitalisiert sind?

Zum Beispiel. Es geht aber auch um die Vereinfachung des Aufenthaltsrechts. Im Moment sind die Ausländerbehörden völlig überlastet.

Die Ampel will mit dem neuen Staatsbürgergesetz Einbürgerungen beschleunigen. Macht es wirklich einen Unterschied, ob die Leute statt nach acht nun schon nach fünf Jahren Aufenthalt hier den deutschen Pass bekommen können?

Ja. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht ist ein Riesenschritt, auf den viele lange gewartet haben. Besonders am Herzen liegen mir die Vereinfachungen für die Gastarbeiter- und Vertragsarbeiter:innen-Generationen. Das ist ein Zeichen des Respekts. Auch die Mehrfachstaatsangehörigkeit ist überfällig. Die bisherigen Einbürgerungszahlen sind auch deshalb so niedrig, weil viele Menschen ihre bestehende Staatsbürgerschaft nicht abgeben wollen. Sie leben und arbeiten hier seit vielen Jahren, sind aber von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Dass sie endlich hier wählen dürfen, wenn sie den deutschen Pass beantragen, werde ich mit einer Einbürgerungskampagne zur Einführung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts begleiten.

Im aktuellen Entwurf für das Staatsangehörigkeitsrecht fehlt aber eine Passage, die bisher Kindern die Einbürgerung auch dann ermöglicht, wenn sie Sozialleistungen empfangen, weil ihre Eltern solche Leistungen bekommen. Finden Sie das richtig?

Der Entwurf steht noch in der Diskussion und ich setze mich sehr dafür ein, dass es nicht zu Verschlechterungen kommt. Es muss weiterhin Ausnahmen geben.

Die Ampel will mit dem Fachkräftezuwanderungsgesetz Ar­beit­neh­me­r*in­nen nach Deutschland locken. Gleichzeitig trägt die Bundesregierung den EU-Kompromiss mit, der Geflüchtete fernhalten sollen. Das ist die Spaltung in nützliche und lästige Migranten, oder?

Es ist ganz klar, dass wir ausländische Fachkräfte brauchen. Wir dürfen aber nicht in schlechte und gute Ausländer einteilen. Das geht mir persönlich total gegen den Strich. Und wir sollten auch nicht unterschätzen, dass den Fachkräften, die wir wollen und brauchen, wichtig ist, wie wir hier über Flucht diskutieren. Studien belegen, dass ein großer Teil derjenigen, die nach Deutschland kommen, hier Diskriminierung erlebt. Das betrifft Fachkräfte wie Geflüchtete. Dem müssen wir uns entgegenstellen.

Den Alltagsrassismus in Deutschland zeigte ein Lagebericht, den sie Anfang Januar präsentiert haben, bevor sie in Mutterschutz gegangen sind. Jetzt sind Sie wieder da. Wie geht es weiter?

Der Kampf gegen Rassismus ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Am Montag berufe ich den neuen Expertinnenrat für Antirassismus ein. Er soll meine Arbeit als Antirassismusbeauftragte unterstützen. Seine Aufgabe ist es, Grundlagen zu schaffen, um Rassismus in den Strukturen und Institutionen besser bekämpfen zu können. Es geht auch darum, Rassismus offiziell zu definieren, damit wir damit konkret arbeiten können. Das klingt theoretisch, ist aber wichtig, damit sich Menschen besser gegen rassistische Diskriminierung wehren können.

Ändert sich Ihr Arbeitsalltag durch das Kind?

Im Bundeskanzleramt gibt es nun erstmals eine Wickelkommode (lacht). Und ich bin sensibler dafür, wie viel arbeitstätige Mütter und Familien leisten.

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